Die Bettlerschale

Eine alte Geschichte erzählt von einem König, der den Wunsch eines Derwisch' erfüllen wollte. Und der Wunsch des Derwisches bestand darin, dass seine Bettlerschale mit goldenen Münzen gefüllt würde. Der König meinte, es sei das leichteste von der Welt, die Schale des Derwisches zu füllen. Aber als er es versuchte, zeigte sich, dass es eine Zauberschale war: sie wurde nicht voll. Je mehr Gold man hineinschüttete, desto leerer wurde sie. Und der König war sehr enttäuscht und entmutigt bei dem Gedanken, dass diese Schale nicht gefüllt werden konnte.

Der Derwisch sagte: "Euer Majestät, wenn Ihr meine Schale nicht füllen könnt, so müsst Ihr es nur sagen, und ich werde meine Schale wieder an mich nehmen. Ich bin ein Derwisch, und ich werde weiterwandern und werde eben denken, dass Ihr Euer Wort nicht gehalten habt."

Mit allem guten Willen, mit aller Großherzigkeit und mit allen Schätzen konnte der Herrscher die Schale doch nicht füllen. Und er fragte: "Derwisch, sage mir, was für ein Geheimnis du in dieser Schale birgst! Es scheint nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Es ist ein Zauber dabei, sage mir das Geheimnis."

Der Derwisch erwiderte: "Ja, Euer Majestät, was Ihr da herausgefunden habt, stimmt, es ist eine Zauberschale." In Wahrheit ist die Schale jedermanns Herz. Es ist das Herz des Menschen, das niemals zufrieden ist. Fülle es, womit du willst, mit Reichtum, Gefälligkeit, Liebe und Erkenntnis, mit allem, was es gibt. Es wird niemals voll, denn es ist nicht dazu da, gefüllt zu sein. Weil der Mensch dieses Geheimnis des Lebens nicht kennt, verfolgt er unablässig alle möglichen Ziele oder jedes Ziel, das vor ihm liegt. Und je mehr er bekommt, desto mehr will er haben, und die Schale der Wünsche wird niemals voll.

 Was dies bedeutet, kann man durch das Studium der Seele verstehen. Der Hunger des Menschen wird durch Nahrung gestillt; aber dahinter steht der Hunger der Seele, und dieser Hunger kann nie gestillt werden. Dieser Hunger steht im Hintergrund all der verschiedenen Formen des Hungers und des Durstes. Und da der Mensch diesen innersten Hunger nun einmal nicht entdecken kann, kämpft er während seines ganzen Lebens darum, den äußeren Hunger zu befriedigen, der gestillt wird und doch ungestillt bleibt.

Wenn jemand eine Studie über Dinge der äußeren, der objektiven Welt macht, kann er eine ganze Menge Wissen über sie gewinnen, und doch kommt er nie an ein Ende. Wer das Geheimnis des Klanges sucht, wer nach dem Mysterium des Lichtes forscht, wer die Geheimnisse der Wissenschaft sucht, sie alle forschen und forschen, und nie kommen sie zu einem Ende, noch erlangen sie je Befriedigung und Gewissheit. Und ein nachdenklicher Mensch fragt sich, ob es diese Befriedigung und Gewissheit denn überhaupt irgendwo gibt, diese Zufriedenheit, die sozusagen die Hoffnung der Seele erfüllt. Tatsächlich gibt es eine Möglichkeit, zu dieser Zufriedenheit zu gelangen; und sie liegt darin, die Vollkommenheit zu erreichen, die nicht von äußeren Dingen abhängig ist, eine Vollkommenheit, die dem eigenen Wesen angehört. Diese Zufriedenheit wird nicht erreicht, sie wird entdeckt. Und eben in der Entdeckung dieser Zufriedenheit kann der Zweck des Lebens erfüllt werden.

*Hazrat Inayat Khan (1882 - 1927)

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