Die sieben Täler - Die Konferenz der Vögel - von Fariduddin Attar (Manteq-ot-teir "Vogelgespräche")

Bevor Attar durch ein einschneidendes Erlebnis zur "Mystik" findet, ist er Besitzer einer Drogerie, daher sein Rufname Attar („der Drogist“).

Dieses Erlebnis ist folgendermaßen überliefert worden:
Seit einigen Stunden hatte sich ein Wandersufi vor dem Geschäft von Attar hingesetzt und starrte die ganze Zeit auf seine Auslage. Attar der befürchtete das seine Kundschaft durch die Anwesenheit dieses Mannes vertrieben werden könnte wandte sich mit harschem Ton an ihn: Wenn du was kaufen willst dann tu dies und geh. Der Sufi stand auf und sagte: Ich brauche nichts doch mache ich mir Sorgen für dich, wie du gehen möchtest und all dies auf dieser Welt zurücklassen willst. Darauf entgegnete Attar: Das was ihr sagt ist doch nur leeres Geschwätz. Ihr hängt genauso an dieser Welt, dein sterben wird genauso schwer sein wie meines. Der Sufi meinte er glaube dies nicht, zog seine Schuhe aus, setzte sich, sprach eine Sure , lächelte, schloss seine Augen und starb.

 


Die sieben Täler
 
Das erste Tal, das sich darbietet, ist das Tal des Verlangens, nach ihm kommt das der Liebe, das keine Grenze hat, das dritte ist das der Erkenntnis, das vierte das der Selbstgenügsamkeit, das fünfte das der reinen Einheit, das sechste das der Bestürzung, das siebente endlich ist das Tal der Auflösung und der Verschmelzung, über das hinaus keiner fortschreiten kann.


1. Das Tal des Verlangens
 
Sobald du in das Tal des Verlangens eingetreten bist, wird Leid dich wieder und wieder überfallen. In jedem Augenblick wirst du da hundert Prüfungen erfahren; der Papagei des Firmaments ist da nur eine Fliege. Du wirst lang in diesem Tale in mühevoller Spannung und steter Wandlung deines Zustands verbringen. Du wirst deine Schätze verlassen und alles was du besitzest ins Spiel werfen müssen.

Und hast du die Gewissheit gewonnen, dass du nichts mehr besitzest, musst du noch dein Herz ablösen von allem was ist. Ist es von allein Anblick der Sonderung befreit, dann leuchtet ihm die göttliche Herrlichkeit auf und durch dieses Licht, das sich dir offenbart, wächst dein Begehren ins Unendliche.

2. Das Tal der Liebe
 
Um hier einzutreten, muss man ganz in Feuer tauchen, ja man muss selber Feuer sein, denn sonst könnte man da nicht leben. Der wahrhaft Liebende muss dem Feuer gleich sein, entflammten Angesichts, brennend und ungestüm wie das Feuer. Um zu lieben, darf man keinen Hintergedanken haben; man muss bereit sein, hundert Welten ins Feuer zu werfen; man muss weder Glauben noch Unglauben kennen, weder Zweifel noch Zuversicht hegen. Auf diesem Wege ist kein Unterschied zwischen Gut und Böse; wo die Liebe ist, sind Gut und Böse entschwunden...
In diesem Tale ist die Liebe das Feuer und sein Rauch ist die Vernunft. Wenn die Liebe kommt, entflieht die Vernunft in Eile. Die Vernunft kann mit der Raserei der Liebe nicht zusammenwohnen; die Liebe hat nichts zu schaffen mit der Vernunft des Menschen. Gewännest du einen rechten Blick der unsichtbaren Welt, dann erst vermöchtest du zu erkennen die Quelle der geheimnisreichen Liebe, die ich dir verkündige. Das Dasein der Liebe wird Blatt für Blatt völlig zerstört von der Trunkenheit der Liebe selbst.

3. Das Tal der Erkenntnis
 
Wenn die Sonne der Erkenntnis an der Wölbung dieses Weges strahlt, den man nicht würdig zu beschreiben vermag, zeigt sich in Klarheit das Geheimnis des Wesens der Dinge, und der feurige Ofen der Welt wird zum Blumengarten. Der Wandrer wird die Mandel unter ihrer Schale schauen. Er wird sich selbst nicht mehr erblicken, nichts mehr wird er erblicken als seinen Freund allein; in allem, was er sehen wird, wird er sein Antlitz schauen, in jedem Atom die Sphäre des Alls; unterm Schleier wird er zahllose Heimlichkeiten betrachten, die leuchten wie die Sonne...
Die sichtbare Welt und die unsichtbare Welt sind für die Seele nichts; der Körper ist der Seele nicht verborgen, noch die Seele dem Körper. Bist du aus der Welt ausgegangen, die nichts ist, dann findest du den Ort, der dem Menschen bestimmt ist.

4. Das Tal der Selbstgenügsamkeit
 
Dieses Tal ist nicht so leicht zu durchschreiten, wie du es in deiner Einfalt glauben möchtest. Wenn auch das Blut deines Herzens sich in dieses Meer ergösse, könntest du nur die erste Station erreichen. Und durchliefest du alle Straßen der Welt, du fändest dich immer, wenn du drauf wohl achtetest, beim ersten Schritt. In der Tat hat kein Wandrer das Ziel seiner Reise geschaut und die Heilung seiner Liebe sehen können.
In diesem Tale darf niemand in der Untätigkeit bleiben, und nur in der Reife darf man es betreten. Es ist nun an der Zeit zu handeln, anstatt in der Ungewissheit oder in der Sorglosigkeit zu leben: erhebe dich also und durchschreite dieses mühsame Tal. Opfre also deinen Geist und dein Herz auf dieser Bahn, sonst musst du verzichten, dir genügen zu können.

5. Das Tal der Einheit

Dies ist der Ort der Entblößung von allen Dingen und der Einung. Alle, die in dieser Wüste das Haupt erheben, ziehen es aus dem gleichen Kragen. Magst du auch viele Einzelwesen sehen, es gibt in Wirklichkeit nur wenige, nein, es gibt eines nur. Da die Menge von Personen wahrhaft nur eine ausmacht, ist diese vollkommen in ihrer Einheit. Was sich dir aber als eine Einheit darstellt, das ist nicht verschieden von dem, was gezählt wird. Da das Wesen, das ich verkündige, außer dieser Einheit und der Zahl ist, lasse du ab, der Ewigkeit des Vordem und der Ewigkeit des Danach nachzusinnen; und da die beiden Ewigkeiten zerronnen sind, gedenke ihrer nicht mehr...

Wenn der Wanderer in dieses Tal eingetreten ist, verschwindet er wie die Erde unter seinen Füßen. Er wird verloren sein, denn das einzige Wesen wird offenbar sein. Er wird stumm sein, denn das einzige Wesen wird reden. Der Teil wird das Ganze werden, oder vielmehr er wird weder Teil noch Ganzes sein. Es wird eine Gestalt ohne Körper sein...

Was ist der Verstand? Er ist an der Schwelle des Tores geblieben, wie ein blind geborenes Kind. Wer etwas von diesem Geheimnis gefunden hat, wendet das Haupt vom Reiche beider Welten ab...

Das Wesen, das ich verkündige, ist nicht gesondert da; die ganze Welt ist dieses Wesen; Sein oder Nichtsein, es ist immer dieses Wesen...

6. Das Tal der Bestürzung
 
Auf das Tal der Einheit folgt das der Bestürzung. Da ist man die Beute der Traurigkeit und des Stöhnens. Da sind die Seufzer wie Schwerte; und jeder Hauch ist eine bittre Klage. Da ist nichts als Weheruf, als Leid, als zehrende Glut; da ist Tag und Nacht zugleich, und da ist weder Tag noch Nacht...

Wie wird der Mensch in seiner Bestürzung weitergehen können? Er wird betäubt werden und sich auf dem Wege verlieren. Aber der die Einheit im Herzen eingegraben hat, vergisst alles und vergisst sich selbst. Wenn man ihm sagt:
»Bist du oder bist du nicht; hast du das Gefühl des Seins oder hast du es nicht; bist du in der Mitte oder bist du am Rande; bist du sichtbar oder verborgen; bist du vergänglich oder unsterblich; bist du das eine und das andere oder weder das eine noch das andere; bist du du selbst oder bist du es nicht?«

wird er antworten: »Ich weiß nichts davon, ich bin dessen unkundig und ich bin meiner unkundig. Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht in wen; ich bin weder treu noch ungetreu. Was bin ich doch? Ich bin selbst meiner Liebe unkundig; ich habe das Herz von Liebe voll und von Liebe leer zugleich« ...
Wer in das Tal der Bestürzung eintritt, der tritt in jedem Augenblick in einen so großen Schmerz ein, dass er hinreichen würde, um hundert Welten zu betrüben. Aber wie lange noch werde ich die Trübsal und die Wirrnis des Geistes ertragen? Da ich verirrt bin, wohin werde ich gehen? Ich weißes nicht, aber möge es Gott belieben, dass ich es wisse ! . . .

7. Das Tal der Auflösung und der Verschmelzung
 
Es ist unmöglich, dieses Tal zu schildern. Als sein wesentlicher Zustand ist anzusehen das Vergessen, die Stummheit, die Taubheit und die Ohnmacht. Da siehst du in einem einzigen Strahl der Sonne die Tausende ewiger Schatten verschwinden, die dich umgaben.
Wenn das Meer der Unendlichkeit seine Wogen zu regen beginnt, wie sollten die Bilder dauern, die auf seiner Fläche gezeichnet waren? Diese Bilder sind die gegenwärtige Welt und die kommende Welt. Wer erklärt, sie seien nicht, erwirbt ein großes Verdienst. Wessen Herz sich in diesem Meere verloren hat, ist darin für immer und bleibt in der Ruhe...

Ein unreiner Gegenstand mag in ein Meer von Rosenwasser fallen, er wird in der Nichtigkeit bleiben durch seine Eigenschaft. Aber wenn ein reines Objekt in dieses Meer fällt, wird es sein besonderes Dasein verlieren, es wird an der Bewegung der Fluten teilnehmen; indem es gesondert dazusein aufhört, beginnt es schön zu sein. Es ist und ist nicht. Wie kann dies geschehen? Es ist dem Geiste unmöglich, es zu fassen...

Wer die Welt verlassen hat, um dieser Bahn zu folgen, findet den Tod, und nach dem Tode die Unsterblichkeit...

Schlage den Mantel des Nichts um dich und trinke vom Becher der Verschmelzung, bedecke deine Brust mit der Liebe zum Dahinschwinden und setze den Burnus des Nichtseins aufs Haupt. Stelle den Fuß ins Steigeisen des unbedingten Verzichtes und treibe entschlossen dein Roß zum Orte, wo nichts ist. In der Mitte und außer der Mitte, drunter, drüber, in der Einheit, umgürte deine Lenden mit dem Gürtel des Entwerdens. Öffne deine Augen und schaue. Wenn du verloren sein willst, wirst du es in einem Augenblick sein, dann wieder auf eine andere Weise; aber du schreite ruhig, bis du zum Reiche der Aufhebung kommst. Besitzest du nur das Ende eines Haares aus dieser Welt, wirst du nie eine Kunde von jener Welt empfangen. Bleibt dir die kleinste Ichsucht, werden die sieben Ozeane dir voll des Unheils sein...

Wirf alles was du hast ins Feuer, bis zu den Schuhen.

Wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt ins Feuer...

Wenn dein Inneres im Verzicht gesammelt sein wird, dann wirst du jenseits von Gut und Böse sein. Wenn es für dich weder Gut noch Böse geben wird, dann erst wirst du lieben, und du wirst endlich würdig sein der Erlösung, die das Werk der Liebe ist.

Was mich betrifft, der ich weder ich noch ein andrer als ich geblieben bin, ich habe mich ganz verirrt, weitweg von mir; ich fand in meinem Zustande kein andres Heil als die Verzweiflung. Als dann die Sonne der Auflösung über mir leuchtete, verbrannte sie beide Welten so leicht wie ein Hirsekorn. Als ich die Strahlen dieser Sonne sah, bin ich nicht getrennt geblieben: der Wassertropfen ist ins Meer zurückgekehrt. Ob ich auch in meinem Spiele zuweilen gewonnen und zuweilen verloren habe, zuletzt warf ich alles in das schwarze Wasser. Ich bin ausgewischt worden, ich bin verschwunden; nichts ist von mir geblieben. Ich war nur noch ein Schatten, kein kleinstes Stäubchen war von mir da. Ich war ein Tropfen, im Ozean des Mysteriums verloren, und jetzt finde ich auch diesen Tropfen nicht mehr.


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