Als ich ein Kind war..

Als ich ein Kind war - etwa dreizehn Jahre alt und während eines Jahres ungefähr, schien es mir jeden Abend, wenn ich zu Bett gegangen war, dass ich meinen Körper verließ und mich gerade über das Haus erhob und dann sehr hoch über die Stadt. Ich sah mich da in ein prächtiges goldenes Gewand gekleidet, länger als ich, und als ich stieg, wurde es immer länger und breitete sich rings um mich herum aus, um gleichsam ein ungeheures Dach über der Stadt zu bilden. Da sah ich von allen Seiten Männer, Frauen, Kinder, Greise, Kranke, Unglückliche hervorkommen; sie scharten sich unter dem ausgebreiteten Gewand, flehten um Hilfe, erzählten ihre Nöte, ihre Leiden, ihre Schmerzen. Zur Antwort dehnte sich das Gewand, geschmeidig und lebendig, auf die Einzelnen zu, und sobald sie es berühert hatten, waren sie getröstet oder geheilt und kehrten glücklicher und stärker als zuvor in ihren körper zurück.

Nichts schien mir schöner, nichts machte mich froher, und alle Betätigungen des Tages kamen mir stumpf und grau vor, ohne wirkliches Leben, neben diesem Tun der Nacht, das für mich das wahre Leben war. Oft wenn ich mich so erhob, sah ich zu meiner Linken einen schweigenden und reglosen Alten, der mich mit wohlwollender Zuneigung betrachtete und mich durch seine Gegenwart ermutigte. Dieser Alte, in ein dunkelviolettes Gewand gekleidet, war die Verkörperung - ich erfuhr es später - von jenem, den man den Schmerzensmann nennt. Jetzt überträgt sich die tiefe Erfahrung, die fast unsägliche Wirklichkeit, meinem Gehirn in anderen Begriffen, die ich so umreißen kann: Sehr häufig scheint es mir, am Tage und in der Nacht, dass ich - oder richtiger mein Bewusstsein - insgesamt in meinem Herzen gesammelt bin, das nicht mehr ein Organ, nicht einmal eine Empfindung ist, sondern die göttliche Liebe, unpersönlich und ewig; indem ich diese Liebe bin, fühle ich mich im Mittelpunkt jeden Dinges auf der ganzen Erde leben, und gleichzeitig scheine ich mich in unermesslichen, unendlichen Armen auszubreiten und mit schrankenloser Zärtlichkeit alle Wesen zu umfangen, die sich scharen, zusammendrängen, hinkauern auf meiner Brust, die weiter ist als das Weltall...
 Worte sind armselig und ungeschickt, O göttlicher Meister, und mentale Übertragungen sind immer kindisch... Aber meine Sehnsucht zu Dir ist beständig, und in Wahrheit bist sehr häufig Du es und einzig Du, der in diesem Körper lebt, einem unvollkommenen Mittel, Dich zu offenbaren. Mögen alle Wesen glücklich sein im Freiden Deiner Erleuchtung!

*Mira Alfassa, Die Mutter, (*1878 -1973)

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