Im Wipfel des Baumes

Vielerlei Menschen standen unter einem hohen Baum. Und einer von den Menschen hatte Augen zu sehen. Er sah: im Wipfel des Baums stand ein Vogel, herrlich in wesenhafter Schönheit. Die anderen sahen den Vogel nicht. Über jenen Mann aber fiel ein großes Bangen, zu dem Vogel zu kommen und ihn zu nehmen, er konnte nicht von dannen ohne den Vogel. Wegen der Höhe des Baums war es jedoch nicht in seinem Vermögen, und auch eine Leiter war nicht da. Weil aber sein Bangen so übermächtig war, fand seine Seele sich den Rat. Er nahm die Menschen, die umherstanden, und stellte sie aufeinander, jeden auf die Schultern eines Gefährten. Er aber stieg zuoberst, so daß er zum Vogel kam, und nahm ihn. Die Menschen, wiewohl sie dem einen geholfen hatten, wußten nichts von dem Vogel und sahen ihn nicht. Er aber, der von ihm wußte und ihn sah, hätte ohne sie nicht zu ihm kommen können. Würde jedoch der unterste von ihnen seinen Ort verlassen, dann müßte der oben zur Dunklen Nacht der Erde niederfallen.

* Aus "Martin Buber - Die Legenden des BaalSchem" (Manesse Bibliothek der Weltliteratur)